Wir freuen uns, heute Dr. Henrik Matthies, Gründer und Geschäftsführer von Honic als Gastautor begrüßen zu dürfen. Der Beitrag spiegelt die Perspektive des Verfassers wieder. Wir wünschen viel Spaß beim Lesen!
Während der Corona-Pandemie konnten wir in Deutschland nur mit großer Mühe nachvollziehen, wie gut unser Gesundheitssystem jeweils mit der Pandemie umgehen konnte. Wichtige Erkenntnisse, wie die Frage welche Mutante des Covid-Virus aktuell besonders verbreitet war, ob und welche Impfung überhaupt schwere Verläufe verhindert und welche Medikamente eventuell helfen konnten, erhielten wir damals nur aus dem Ausland, vor allem aus England und Israel. Beide Länder haben schon vor vielen Jahren eine einheitliche Dateninfrastruktur aufgebaut, Datenstandards etabliert und rechtliche Rahmenbedingungen geschaffen um so fast in Echtzeit verfolgen zu können, wer wie wo warum behandelt wird. Davon sind wir in Deutschland noch sehr weit entfernt.
Datennutzung wird oft in zwei Bereiche unterteilt:
Primärnutzung für die medizinische Versorgung der Patient:innen sowie
Sekundärnutzung für medizinische Forschung, die zumeist später und unabhängig von der eigentlichen medizinischen Versorgung angegangen wird.
Rund um die bessere Primärnutzung der Gesundheitsdaten ist in den letzten Jahren einiges passiert: Mit der Telematik-Infrastruktur (TI) wurde eine eigene sichere ‚Datenautobahn‘ für Gesundheitsdaten durch die gematik, der Digitalagentur des Gesundheitsministeriums entwickelt, die alle Ärzt:innen und Therapeut: innen miteinander verbindet: Vom Krankenhaus über die niedergelassenen Ärzte und die Apotheken bis zur Physiotherapie und später auch Pflege.
Auf dieser Grundlage werden nun verschiedene Lösungen wie das e-Rezept oder die elektronische Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung entwickelt, die bisher papierbasiert waren. Sie werden nun digital. Mit dem TI-Messenger gibt es nun auch eine Art sichere E-Mail um Informationen zwischen Ärzt:innen auszutauschen. Etwas, das bis dato in Deutschland hundertausendfach täglich vor allem über Faxe, Briefe und Telefonanrufe passierte. Das muss man im Jahr 2024 erstmal sacken lassen. Ab nächstem Jahr soll schrittweise jeder Versicherte auch eine elektronische Patientenakte (ePA) erhalten, in der wichtige medizinische Informationen gespeichert werden (Weitere Informationen zur neuen ePA für alle).
Deutlich unbekannter, weil für Patient:innen direkt nicht unmittelbar erlebbar, hat sich auch einiges bei der Sekundärnutzung von Daten getan - also der Frage, ob und wie medizinische Daten auch für die Forschung genutzt werden können. Zum einen hat der Staat mit dem Forschungsdatenzentrum Gesundheit (FDZ - Gesundheit) rechtlich eine neue Institution geschaffen, die Abrechnungsdaten von Krankenkassen in Zukunft mit Krebsregisterdaten, ePA-Daten und später auch Genomdaten unter bestimmten Voraussetzungen zusammenführen darf.
Natürlich unter Wahrung der Datenschutzanforderungen, wie z.B. die DSGVO und dem Gesundheitsdatennutzungsgesetz. Forschende dürfen am Ende nur mit Daten arbeiten, die keinen Rückschluss auf eine reale Person ermöglichen. Wir sprechen hier über so genannte synthetische Daten. Das sind künstlich erzeugte Daten, die reale Daten imitieren, ohne echte Datenpunkte zu enthalten. Sie werden aus Originaldaten mithilfe von mathematischen Modellen generiert und bieten ähnliche statistische Ergebnisse, wodurch sie sicher für Analysen verwendet werden können.
Neben staatlichen Stellen wie dem FDZ - Gesundheit, welches beim Bundesamt für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) etabliert wird, entsteht in Deutschland gerade auch ein Ökosystem rund um Datennutzung von privaten und teil-staatlichen Akteuren wie zum Beispiel Daten von Laboren oder Apotheken, die zur Erforschung neuer Wirkstoffe genutzt werden. Natürlich ebenfalls unter Wahrung aller Datenschutzanforderungen.
Während bis vor wenigen Jahren noch die Frage des „ob“ (ob Gesundheitsdaten genutzt werden) im Zentrum der Diskussion stand, kommt durch Gesetze wie das Gesundheitsdatennutzungsgesetz (GDNG) auf nationaler oder des European Health Data Spaces (EHDS) auf europäischer Ebene das „wie“ immer mehr in den Fokus.
„Wie“ wollen wir in Deutschland und Europa in den nächsten Jahren Daten teilen und für Forschung nutzen? Wer hat welche Rechte und Pflichte? Wo müssen wir aufgrund technologischer Entwicklungen (Künstliche Intelligenz, Federated Learning – also die Analyse von Daten bei denen nicht die Daten an einen zentralen Ort wandern, sondern stattdessen die Analysetools technisch zu den Daten gebracht werden etc.) Denkmuster hinterfragen, wo Möglichkeiten schaffen oder auch eingrenzen?
Hauptaufgabe für alle Akteure rund um die entstehende Datennutzung in Deutschland wird es in den nächsten Monaten sein, eine Interoperabilität zwischen den unterschiedlichen staatlichen wie privaten Lösungen zu gewährleisten, so dass Forschende unter Wahrung des Datenschutzes möglichst viele relevante Gesundheitsdaten in ihre Forschung einbeziehen können. Damit wir in Deutschland nicht analoge Silos „nur“ digitalisieren, sondern neue digitale Möglichkeiten entwickeln, die die medizinische Versorgung nachhaltig verbessern können.
Mit diesen Möglichkeiten können wir schon heute in Deutschland tagesaktuelle Übersichten über Erkrankungsfelder und Patientengruppen schaffen. Damit kann man zum Beispiel erkennen, wie die medizinische Versorgung in einer Region in einer Erkrankung umgesetzt wird und Lücken erkennen. Wir können sehen, wo eine Unterversorgung oder auch eine Überversorgung stattfindet und mit diesen Erkenntnissen die medizinische Versorgung zu verbessern. Jetzt braucht es nur noch mutige Menschen, die diese neuen Möglichkeiten ergreifen und umsetzen, dabei bekannte Pfade und Rollen verlassen, um die Zukunft aktiv zu gestalten.